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Mit samenfesten Sorten Vielfalt retten

Wusstet ihr, dass wir in Deutschland heute schon 90% aller früheren Obst- und Gemüsesorten verloren haben? In unserem Artikel erklärt Regionallieferant und Bio-Saatgut-Erhalter Albrecht Vetters, wie es dazu kam – und wie wir mit samenfestem Saatgut die verbliebene Sortenvielfalt bewahren. Außerdem erfahrt ihr, wie ihr Obst, Gemüse und Saatgut aus nachbaufähigen Sorten erkennen könnt.
Albrecht Vetters im Portrait

Warum ist es gerade heute so wichtig, die Sorten- und Saatgutvielfalt zu erhalten?

Die Vielfalt an Obst- und Gemüsesorten war schon immer von großer Bedeutung: Über Jahrhunderte haben landwirtschaftliche Betriebe und Gärtnereien ihr eigenes Saatgut produziert. Über die Zeit entwickelten sich dadurch viele typische regionale Landsorten. Beispiele dafür sind das Radieschen Dresdner Bündel oder die Zwiebel Dresdner Markt. Diese Sortenvielfalt wurde jedoch im letzten Jahrhundert fast komplett ausgelöscht: Im heutigen Obst- und Gemüseanbau hat nur ein kleiner Teil der früheren genetischen Fülle überlebt.


Weshalb ging die Sortenvielfalt verloren?

Es gab vier große Entwicklungen, die zu diesem großen Verlust der Arten- bzw. Sortenvielfalt beitrugen. Sie setzten etwa seit dem Beginn des 20. Jahrhunderts ein.

Blühende Nutz- und Kulturpflanzen auf der Johannishöhe im Sommer
  1. Die Landwirtschaft wurde industrialisiert – größere Flächen, einheitlichere Strukturen sowie standardisierte Anbauverfahren und Ernten. Das führte zu weniger Vielfalt auf Äckern und Feldern.

  2. Die Pflanzenzüchtung wurde immer öfter von spezialisierten Unternehmen betrieben. Und diese entwickelten vor allem Sorten, die sich besser für die neu entstehende industrielle Landwirtschaft eigneten: Die Pflanzen dieser Hochzuchtsorten wuchsen einheitlicher, lieferten höhere Erträge oder waren länger haltbar. Landwirte und Gärtner nutzten vermehrt diese neuen Züchtungen, sodass ältere Sorten in Vergessenheit gerieten oder verloren gingen.

  3. Die Saatgutgesetzgebung war ein weiterer Grund für den Verlust an Vielfalt. Diese regelte ab den 30er Jahren den Handel und Anbau von Obst- und Gemüsesorten von staatlicher Seite. Die Idee dahinter: Einheitliche Qualitätsstandards für die Sorten im Gewerbsanbau sollten die bestehende Sortenvielfalt „bereinigen“. Mit der „Verordnung über Saatgut“ wurden ab 1934 viele der alten Landsorten in Deutschland verboten. Diese Saatgutverordnung wurde teilweise nach dem Krieg übernommen und weiterentwickelt. Das hat noch immer drastische Folgen für die Vielfalt auf unseren Feldern und Tellern.

  4. Hybridsorten und die Verfahren der klassischen Gentechnik in der Saatgutzüchtung wurden spätestens in den 80er Jahren wichtig. Hybridzüchtungen und gentechnisch verändertes Saatgut wurden mehr und mehr eingesetzt, die samenfesten Sorten wurden hingegen vom Markt verdrängt. Den Effekt sieht man heute: Bei Gemüsen wie Tomate, Kohl oder Spinat stammen über 80 % der Pflanzen von hybriden Sorten.
Felder von Albrecht Vetters

Tragen die vielen hybriden Neuzüchtungen nicht auch zur Arten-/ Sortenvielfalt bei?

Die Fülle an Hybridsorten ist kein Ersatz für eine natürliche Sortenvielfalt. Zum einen werden hybride Sorten meist unter Laborbedingungen gezüchtet, also fernab von den natürlichen Gegebenheiten, unter denen sie schließlich angebaut werden. Sie sind daher weniger gut an die unterschiedlichen Standortbedingungen angepasst. Zudem werden für die Hybridzüchtung nicht nur Chemikalien wie das Pflanzengift Colchyzin, sondern auch biotechnische Verfahren eingesetzt, die teils problematisch gesehen werden. Ein Beispiel ist das künstliche Einbringen von cytoplasmatischer männlicher Sterilität, kurz CMS, das von Bioverbänden wie Bioland, Naturland, Demeter oder GÄA abgelehnt wird.


CMS-Hybride: Einfach erklärt

Was ist cytoplasmatische männliche Sterilität?

CMS ist eine Mutation, die bei einigen Pflanzen wie Sonnenblumen oder Rettich natürlicherweise vorkommt und zur Unfruchtbarkeit der männlichen Pollen führt.

Wie wird CMS genutzt?

In der Züchtung wird diese Mutation bewusst auf andere Pflanzen übertragen, um die Selbstbefruchtung zu verhindern. Bei der Erzeugung von Hybridsorten wird mit Hilfe von CMS abgesichert, dass die zwei Inzuchtlinien sich gegenseitig befruchten. Die Gene für CMS können durch natürliche Züchtung eingekreuzt werden, häufiger nutzt man für die Übertragung jedoch Zellfusion. Hybride Sorten oder Pflanzen, die mit Hilfe von CMS gezüchtet wurden, werden auch als CMS-Hybride bezeichnet.

Sind CMS-Hybride gentechnisch verändert?

Pflanzen und Samen, die mit Hilfe von CMS gezüchtet werden, sind nicht gentechnisch verändert (GVO) und müssen auch nicht als solche gekennzeichnet werden. Der Einsatz von CMS stellt jedoch einen Eingriff in die Integrität der Pflanze dar.

Sind CMS-Hybride im Bio-Anbau erlaubt?

Laut EU-Bio-Verordnung sind CMS-Hybride zulässig. Die Bioverbände in Deutschland, Österreich, der Schweiz und Frankreich verbieten CMS-Hybride hingegen.


Darüber hinaus sind hybride Sorten quasi erstarrt, denn anders als samenfeste Sorten können sie nicht durch natürliche Zucht vermehrt und weiterentwickelt werden. Hybrid-Saatgut ist de facto „Einmalsaatgut“ mit eingebautem Copyright. Pflanzen dieser Sorten zeigen ihre typischen Eigenschaften nur in der ersten Generation sicher. Deshalb müssen Gärtner:innen und Landwirt:innen, die mit hybriden Sorten arbeiten, immer neues Saatgut nachkaufen und sind abhängig von Saatgutherstellern. Für den Erhalt der natürlichen Sorten- und Artenvielfalt in der Landwirtschaft sind nachbaufähige Sorten also in mehrerlei Hinsicht unverzichtbar.

Alte Tomaten-Sorten
Stangenbohne der Sorte Posthörnchen

Ist eine vielfältige und ertragreiche Bio-Landwirtschaft ohne Hybride machbar?

Grundsätzlich ja. Für eine Landwirtschaft, die auf einen natürlichen, vielfältigen, ökologischen und kleinstrukturierten Anbau setzt, sind samenfeste Sorten bestens geeignet. Denn diese Sorten tragen dazu bei, die Ernährungssouveränität wieder herzustellen und Abhängigkeiten von Großkonzernen sowie deren Patenten zu lösen. Zudem bringt auch die ökologische, natürliche Pflanzenzüchtung bis heute immer wieder neue, leistungsfähige und samenfeste Sorten hervor, die unter anderem bei Anbietern wie Bingenheimer Saatgut erhältlich sind. Leider ist jedoch gerade die ökologische Pflanzenzüchtung im Gegensatz zu gentechnischen Verfahren noch viel zu wenig entwickelt. So fehlen in der großflächigen industrialisierten Landwirtschaft z. B. bei Kohlgemüse samenfeste Sorten, die den standardisierten Verfahren gerecht werden. Wir brauchen also mehr Förderung für die ökologische Pflanzenzüchtung – dann ist auch eine vielfältige, nachhaltige und ertragreiche Landwirtschaft mit nachbaufähigen Sorten möglich!


Wie erkenne ich, ob Saatgut, Gemüse oder Obst von samenfesten Sorten stammt?

  • Lebensmittel aus samenfesten oder nicht samenfesten Sorten müssen nicht entsprechend gekennzeichnet werden, auch nicht im Bio-Bereich.
  • Einige Händler:innen weisen auf samenfeste Sorten freiwillig hin – so auch die VG Dresden. In den VG Biomärkten werden solche Gemüsesorten bereits mit dem Zusatz „samenfest“ gekennzeichnet.
  • Ohne eine solche Angabe kann man als Kund:in auch selbst anhand der Sorte nachschauen, ob diese samenfest ist.
  • CMS Hybride sind bei den Bio-Anbauverbänden wie Bioland, Naturland, Demeter oder GÄA verboten. Wer sicher sein will, keine Lebensmittel von diesen hybriden Sorten zu kaufen, ist mit Produkten der Bio-Anbauverbände gut beraten.
  • Bei Saatgut muss immer angegeben werden, ob es eine hybride oder samenfeste Züchtung ist. In den Märkten der VG findet ihr eine Vielzahl samenfester Sorten, darunter auch alte Kultursorten wie das Radieschen Dresdner Bündel oder die Bautzener Kastengurke.

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